Warum Uniwahlen nichts ändern – und ihr trotzdem hingehen solltet. Ein kritischer Wahlaufruf

Tübingen hat eine vielfältige und lebendige Linke Szene. Diese schließt auch die Universität mit ein. Viele, die aktiv sind, sind auch an der Uni eingeschrieben. Deshalb teilen wir unseren Kritischen Wahlaufruf mit euch:

Im Juni sind Uniwahlen an der Uni Tübingen. Wir rufen euch auf, Briefwahl zu beantragen oder das Wahllokal (mit Maske und Abstand) zu besuchen und progressive Listen zu wählen. Das Ergebnis der Wahl bestimmt die politische Zusammensetzung des StuRa, der offiziellen Vertretung der Studierenden an der Uni. Wir glauben nicht, diese Gesellschaft oder gar die Uni ließe sich über Wahlen doch irgendwie zum Besseren reformieren. Der Uni-Stura und dessen Fachschaften können aber mit deren finanziellen Mitteln ein Teil einer solidarischen Infrastruktur sein.

Parlamentarische Hochschulpolitik ist natürlich weitgehend witzlos. Die Universität ist ein undemokratischer Laden, das Rektorat hat die Vollmachten eines feudalen Königs. Und auch die Dekane (in Tübingen sämtlich Männer) der Fakultäten herrschen unnachgiebig über ihre Fürstentümer. Dennoch wird den Studierenden durch die alljährlich stattfindenden Wahlen zu Studierendenrat und Senat das Gefühl vermittelt, bei den zu treffenden Entscheidungen ein Wörtchen mitreden zu dürfen. Viele Hochschulgruppen nutzen diese Situation im Wahlkampf und versprechen das Blaue vom Himmel. Dabei entsteht der Eindruck, man könne im StuRa beschließen, Obst in der Mensa günstiger zu machen, die Bibliothek länger zu öffnen, Wohnheime bauen zu lassen oder die baden-württembergische Regierung dazu zu zwingen, mehr Gelder und Mittel für die Lehre zur Verfügung zu stellen. Das alles ist natürlich Unsinn; diese Entscheidungen können nicht einfach so vom Studierendenrat umgesetzt werden und verlangen viel mehr Arbeit als ein bisschen Wahlkampf-Geplänkel. Angesichts der mithin katastrophalen Zustände an der Universität wollen wir jedoch weder in resignierte Tatenlosigkeit noch in pseudo-intellektuelle Überheblichkeit verfallen: dafür gibt es zu viel zu tun!

Dem StuRa obliegt unter anderem die Verwendung von finanziellen Mitteln für studentische Projektförderung. Es ist essentiell, dass diese für sinnvolle Projekte mit emanzipatorischem Anspruch zur Verfügung stehen. Durch Land und Uni ist diese Förderung schon massiv eingeschränkt. Sie sollte nicht durch Studierende zusätzlich eingeschränkt werden. Diese Förderung ist aufgrund fehlendem emanzipatorischen Anspruch und Inhalt im täglichen Wissenschaftsbetrieb dringend nötig: der Konsum von Wissen muss dem lebendigen Vollzug von Erkenntnis weichen! Die neoliberale Universität verunmöglicht dies zusehends.

Der Leitsatz, Wissenschaft müsse »unabhängig« sein, ist angesichts der Realität einer mehr und mehr drittmittelabhängigen Universität in der Gegenwart selbst hochgradig ideologisch. Die Wissenschaft soll Partei ergreifen! Sie soll im Dienste einer besseren Gesellschaft stehen: verbindliche, interdisziplinäre Kritik äußern an Institutionen und Entwicklungen, die einem menschenwürdigen Leben im Wege stehen. Da wir in dieser Hinsicht vom wissenschaftlichen Tagesgeschäft wenig bis nichts zu erwarten haben, liegt es auch hier an uns, zu handeln. Lesekreise, Buchvorstellungen, Veranstaltungsreihen, Gruppen und Initiativen, die in diesem Sinne arbeiten, sollen mit Geldern und Räumen unterstützt und kritische, selbstorganisierte Lehre verstetigt werden. Die Hochschule muss mehr sein als eine Institution der Renditemaximierung und Humankapitalbildung.

Entsprechend muss Exklusion im Bildungswesen konsequent begegnet werden: darum sind jede Form von Studiengebühren, Zulassungsbeschränkungen und Etablierung exklusiver Kulturen strikt abzulehnen. Barrierefreiheit an allen Universitätsstandorten und studentische Freiräume sind dafür dringend nötig. Frauen* sind in Forschung und Lehre nach wie vor dramatisch unterrepräsentiert.

Die Parlamente, Gremien und Räte werden uns keine andere Universität ermöglichen. Die Transformation zu einer ökologischen, antifaschistischen und emanzipatorischen Hochschule in rätedemokratischer Selbstverwaltung können wir nur selbst gestalten!
Dennoch ist es notwendig, wählen zu gehen. Denn Mehrheiten von reaktionären, »konservativen«, »liberalen« und allgemein »parteinahen« Gruppen in den Gremien der studentischen und akademischen Selbstverwaltung wurden stets von Rektoraten und anderen Universitäten Akteurinnen dazu missbraucht, neoliberale Interessen umzusetzen. Die »Legitimierung« durch Universitätswahlen hängt aus Sicht der Universität nicht von Wahlbeteiligung, Arbeit der Vertreterinnen oder Inhalten ab, sondern allein daran, ob ihnen das Ergebnis gefällt. Eben ganz wie bei einem feudalen König. Durch Wahlen (allein) können wir keine Verbesserungen erreichen, aber wir können zumindest jene Alternativen stärken, welche uns auf unserem Weg zu einer anderen Universität und Welt weniger zusätzliche Steine in den Weg legen, sondern für eine gemeinsame, unabhängige Studierendenvertretung kämpfen. Wählen allein reicht nicht.

Alle, die aktuell eingeschrieben sind, können noch bis Dienstag, 22.06.2021, Briefwahl beantragen: https://uni-tuebingen.de/de/210103

Die Wahlen finden jeweils von 9 bis 17 Uhr am 29.06. im Hörsaalzentrum Morgenstelle und am 30.06. im Klubhaus statt. Bei Briefwahlunterlagen gilt der Eingang bis 30.06. 15 Uhr.
Wählt wen ihr wollt. Aber bitte, überlasst die Uni nicht den Reaktionären und Rechten.